Samstag, 2. April 2016

The Lucky Country

Es war gut, dass ich Donald Horns Buch, The Lucky Country (Wikipedia), nicht früher gelesen habe. Denn ziemlich sicher hätte es meine eigenen Beobachtungen von Australien und den Australiern mit Vorurteilen belastet.


The Lucky Country ist kein neues Buch: Horne, ein äusserst gebildeter und kritischer australischer Journalist, schrieb es bereits 1964. Zu einer Zeit, als Australien durch den Export von Wolle und Bodenschätzen im Geld schwamm, und als die Labor-Partei immer noch die Vorherrschaft der weissen Rasse propagierte. Es gilt als eines der wichtigsten Bücher über Australiens Gesellschaft, deren Kultur und Politik in den 60er-Jahren. Und es ist wohl das am meisten missverstandene australische Buch überhaupt. Der Grund dafür liegt im Titel selbst: The Lucky Country ist ironisch gemeint, aber die meisten Australier mein(t)en, im Titel sofort ihr Land zu erkennen, und interpretieren den Titel, ohne das Buch gelesen zu haben. Sie sind stolz, Australier zu sein (auch wenn sie genau dazu, im Grunde genommen, nichts beigetragen haben).

Die Kernaussagen des Buchs sind freilich ganz anders:
  • Australiens Wohlergehen ist zum grössten Teil glücklichen Umständen geschuldet, nicht schlauen Ideen, guter Planung und harter Arbeit
  • Die australische Wirtschaft ist geprägt von stumpfem Management und fehlendem Innovationsvermögen
  • Australier sind mit sich selbst und der Welt zufrieden und sind sich der Fragilität des Glücks nicht bewusst
  • Es besteht ein akutes Risiko, dass Australien strauchelt und in einen Abwärtsstrudel gerät
Es würde jetzt hier zu weit führen, Hornes Aussagen im Einzelnen zu erläutern, aber so viel sei gesagt: als profunder und intimer Kenner von Australiens Seele, Geschichte, Wirtschaft, Innen- und Aussenpolitik, Bildungswesen und Gesellschaft, lieferte Horne eine sehr detaillierte und präzise Beschreibung seines Volkes.


Über The Lucky Country stolpert man regelmässig, wenn man sich etwas ernsthafter mit Australiens Wesen befasst. Im Januar 2015, nach den seltsamen, politisch induzierten Spassbegrenzern in der vorausgegangenen Silvesternacht in Sydney, hatte ich ein Buch gesucht, das sich kritisch mit der aktuellen Entwicklungen in Australiens Politik, Wirtschaft und Gesellschaft auseinandersetzt. Und gefunden: es gab keinen Weg an The Rise and Fall of Australia (Untertitel: How a great nation lost its way), 2014, von Nick Bryant vorbei.


Bryant, ein renommierter britischer Journalist, hat in Cambridge Geschichte studiert und in Oxford in US-Politik doktoriert, ist mit einer Australierin verheiratet, arbeitete für die BBC in Südostasien und schliesslich von 2006 bis 2014 in Sydney. Er ist einerseits Aussenstehender, kennt Australien aber von innen, ist intelligent, differenziert — und kritisch. Bryant versteht sein Buch als moderne Fortsetzung von The Lucky Country (… also hätte ich zuerst letzteres lesen müssen, um ersteres verstehen zu können, was ich aber dann nicht tat, sondern ich verschob die Lektüre von The Lucky Country auf die letzten Wochen in Australien).

Bryant liefert viele aktuelle Analysen zu den von Horne vor 50 Jahren formulierten Postulaten. In vielen Punkten stimmt er Horne auch heute noch zu, stellt aber insgesamt fest, dass Australien — entgegen Horns Prognosen — wirtschaftlich durchgestartet statt abgestürzt ist. Australien ist die einzige Industrienation, welche praktisch unbeschadet aus den vergangenen drei Weltwirtschaftskrisen hervorgegangen ist. Er preist ganz speziell Australiens Beiträge und Akteure in Kultur, Wissenschaft und Bildung, und attestiert Australien, dass es auf der Weltbühne, trotz nur 23 Mio. Einwohnern, in der obersten Liga mitspielt. Aber er zeichnet ein äusserst düsteres Bild der politischen Klasse Australiens. Hier ist er wesentlich negativer eingestellt als Horne, der der australischen Führungselite unterstellte, dass sich das Land aus lauter Glück und nicht aufgrund von Planung und Können erfolgreich entwickelt habe. Bryant bezeichnet die politische Elite als unfähig, kurzsichtig und mit sich selbst beschäftigt. Und weil das politische System insgesamt in die Enge führe (es ist nach dem britischen Westminster-System modelliert), sei leider auch keine Besserung in Sicht. Das faktische Zwei-Parteien-System sei ein Irrlauf: Politiker befänden sich dauernd im Wahlkampf und müssten kurzfristig erzielte Resultate vorweisen. Beim Wechsel der Regierungspartei würde die für langfristige Ziele notwendige Kontinuität gebrochen.

Auch hier würde es zu weit führen, Bryants detaillierte und mit vielen Beispielen belegte Argumentation zu erläutern. Nur so viel sei gesagt: wer sich kritisch mit Australien von Heute beschäftigen will, kommt um dieses brilliante Buch nicht herum.


So, und nun folgt meine eigene kritische Betrachtung Australiens. Wir waren im letzten Jahr oft gefordert, uns zu überlegen, wie wir zu Australien stehen. Denn die Australier stellten uns immer wieder dieselbe heikle Frage, nachdem sie erfahren hatten, dass wir bereits ein Jahr in Melbourne gearbeitet hatten, dass wir Ingenieure sind, und dass wir uns ein Jahr Zeit genommen hatten, Land und Kultur in Breite und Tiefe zu erkunden:
Wouldn’t you like to live in Australia (Möchtet Ihr nicht hier leben)?”
Achtung Tretmine! Im Wissen und in der Erfahrung, dass Australier kaum kritikfähig sind, gab es drei mögliche Antworten:
  • die Notlüge (“Ja, das würde uns gefallen!”) — damit ist der weitere Verlauf des Gespräch gesichert;
  • die Ausflucht (“Wir haben Verpflichtungen in der Schweiz”) — das Gespräch wird aus dem Minenfeld herausgesteuert;
  • die Wahrheit (die ehrliche Antwort lautet, “No way!”) — damit ist das Gespräch nach ein paar Nachfragen zur Begründung beendet. 


Wir hatten 2010 ein sehr spannendes Jahr in Melbourne; wir hatten eben ein phantastisches Jahr rund um — sowie kreuz und quer durch — diesen riesigen Kontinent. Aber dauerhaft hier leben und arbeiten? – Nein danke. Das hat vor allem vier Gründe, denen sowohl Horne (1 bis 3) wie Bryant (1 bis 4) ganze Kapitel widmeten, und die ich bestätigen kann:
  1. Ideen und Innovationen sind nicht in Australien zuhause (siehe auch Punkt 3). Die Australier lamentieren dauernd, dass sie bald nur noch chinesische Billigprodukte kaufen könnten. Ja, klar, wenn hier nichts Neues entwickelt wird, und wenn jeder nur seinen eigenen Geldbeutel optimiert (führt gleich zu Punkt 2). Australien schuldet praktisch seinen ganzen Reichtum den natürlichen Ressourcen (dazu zähle ich auch die Landwirtschaft). Pro Tag werden 2 Mio Tonnen Eisenerz aus dem Hafen von Port Hedland ausgefahren, vorwiegend nach China. Warum wird das Erz nicht in Australien zu Eisen verhüttet, zu Stahl vergütet und zu Produkten verarbeitet? — Betretenes Schweigen. Man kauft das Eisen später von China zurück.
  2. Kurzsichtigkeit ist fast schon ein Volkssport. Etwas planen, nachhaltig und qualitativ hochwertig umsetzen ist un-australian. Lieber “give it a go (versuch’s halt mal)”, und lieber dreimal billig kaufen als einmal gut. In die Zukunft investieren? Energieeffizienz, Abfallmanagement: eine Schande für so ein hoch entwickeltes Land! Gebäude sind nicht isoliert, der meiste Müll wird heute noch im Boden vergraben; nicht einmal Batterien werden rezykliert. Lieber den so gesparten Dollar in ein grösseres Haus oder ein schnelleres Motorboot investieren. Und genau so denkt und handelt auch die Politik: senken wir die Steuern, damit wir wieder gewählt werden, für die Umwelt schauen wir später. Politische Vision: Fehlanzeige. Aber: Befragen wir ausserhalb von Australien Leute zum ökologischen Image Australiens, dann denken alle, man sei dort super ökologisch und nachhaltig. Wie ist den Aussies dies bloss gelungen? Einfach nur Glück?
  3. Konformismus ist ein allgegenwärtiger Druck, dem sich die Australier beugen. Nur nicht anders sein als die anderen. Die Standards und Verhaltensmuster sind klar bekannt, und wer sich darüber hinwegsetzt, wir von Seinesgleichen in den Senkel gestellt. Das nennt man hier das tall-poppy syndrome: ragt eine Mohnblume über die anderen heraus, wir sie geköpft. Die Leute beugen sich der Konformität meist wie Schafe. Klar, dass sich in einer solchen Kultur niemand wagt, durch neue Ideen aufzufallen oder Trends zu setzen. Wer Geld für Solarpanels ausgibt, muss sich der Kritik seiner Freunde aussetzen, wird als dumm bezeichnet, weil sich der Kauf doch erst nach 10 Jahren amortisiere.
  4. Nanny State (staatliche Bevormundung) ist die treffende englische Bezeichnung für unsere erstaunlichste Entdeckung: Was ist nur passiert mit Crocodile Dundee und dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten? Die Städter fürchten sich davor, in die Natur hinauszugehen. Politiker und Behörden beschützen ihre Bürger vor allen nur möglichen (und unmöglichen) Gefahren. Sogar Spass-Haben wird verboten. Nirgends haben wir auch nur annähernd so viele unnötige Warnschilder gesehen wie in Australien. Überall weiss der Staat am besten, was seinen Bürgern gut tut, und scheut sich nicht, dies mit Regeln und Gesetzen vorzuschreiben. Das Haftpflichtgesetz schaltet Eigenverantwortung aus. Tausende von Consultants verdienen mit Risikoanalysen und dem Erarbeiten von Massnahmen und Sicherheitsvorrichtung gutes Geld. Das färbt mit der Zeit auf die Leute ab, und alle werden ängstlich. Und wegen Punkt 3 muckt kaum jemand auf.
Wer ein Haus baut, baut zu allererst einen Zaun, damit sich auf dem Areal niemand unbefugterweise verletze

Gefährlicher Wald

Ein Brücklein bietet ungeahnte Gefahren

Wie oft gehen Fussgänger zu dritt nebeneinander?


Vor lauter Zaun kann man das Exponat gar nicht mehr richtig betrachten


Hochgradig reglementiert: Sylvesterfeier Sydney


Wer denkt schon daran, das Wasser aus dem Teich zu trinken?

Keine Fussgänger weit und breit

Neben diesen vier Gründen, nicht in Australien leben zu wollen, gäbe es hundert Gründe dafür. Als Reiseland ist Australien auf alle Fälle fast nicht zu schlagen: landschaftlich umwerfend und abwechslungsreich; sicher (ja, trotz all der giftigen Tierchen); mit einer super Reiseinfrastruktur ausgerüstet; und von netten, gebildeten, zugänglichen Leuten bewohnt, die es sich gerne gut gehen lassen und die am liebsten einfach so weiterleben, wie bisher. Donald Hornes Analyse ist auch heute noch erstaunlich zutreffend.